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Der Friedensreiter
Verschollener Filmschatz von 1918 wiedergefunden
Ein ganz besonderer Filmschatz eröffnete in diesem Jahr die Filmreihe „Drehbuch Geschichte“: „Der Friedensreiter“ von 1918/19 kann als der älteste Spielfilm aus und über Westfalen gelten. Gleichzeitig galt er jahrzehntelang als verschollen und wurde erst im Februar 2025 als 35mm-Fassung in Norwegen wieder aufgefunden.
„Kriegsepos, Agententhriller und Sagenfilm“ – Zum Inhalt
Der Stummfilm entführt die Zuschauer in fünf Akten und einem „Vorspiel“ in die Endphase des Dreißigjährigen Krieges. Er zeigt, wie die Bevölkerung unter den marodierenden Söldnertruppen leidet, und beschreibt die Bemühungen um einen Friedensschluss zwischen den Niederlanden und Spanien als Teil des Westfälischen Friedens. Dazu soll der niederländische Gesandte Adrian Pauw zu den Friedensverhandlungen nach Münster reisen. Das versucht eine zwielichtige französische Agentin namens Victorine de Brion im Auftrag des Kardinals Mazarin zu hintertreiben. Denn, so heißt es gleich zu Beginn des Ersten Aktes in einer Schrifttafel unmissverständlich, „Frankreich will den Frieden nicht.“ Dass Pauw trotzdem nach Münster gelangt und der Friede zustande kommt, ist vor allem dem „Friedensreiter“ zu verdanken, einer schemenhaften Sagengestalt, die an entscheidenden Stellen immer wieder zum Guten in die Handlung eingreift. Nachdem es der französischen Agentin zwischenzeitlich gelingt, sogar den edlen kaiserlichen Rittmeister von Dülken zu becircen und ihm einen wichtigen Brief zu stehlen, wird sie am Ende vom „Friedensreiter“ höchstselbst ihrer gerechten Strafe zugeführt. Der 59-minütige Streifen ist aus heutiger Sicht eine befremdliche Mischung aus Kriegsepos, Agententhriller und Sagenfilm mit eindeutig antifranzösischer Tendenz. Propagandistisch sollte er angesichts der sich abzeichnenden militärischen Niederlage an der Front und der Auflösungserscheinungen in der Heimat vermutlich die „Erzfeindschaft“ zu Frankreich beschwören und den Durchhaltewillen stärken.
Zwischen Münster und Berlin – Zur Entstehung
Die Idee zu dem Film stammte ursprünglich vom münsterschen Stadtarchivar Dr. Eduard Schulte und dem Schriftsteller und Kulturfunktionär Dr. Friedrich Castelle. Mit der Umsetzung wurde die „Deutsche Lichtbild-Gesellschaft“ (Deulig) beauftragt, die 1916 als „staatsmittelbares“ Filmunternehmen mit propagandistischem Auftrag gegründet worden war. Diese erklärte sich bereit, die Kosten vollständig zu übernehmen, wollte dafür aber aus dem Stoff einen zugkräftigen Spielfilm machen. Die Regie übernahm Hans Werckmeister, der mehrere Filme für die Deulig realisierte. Gleich in einer Doppelrolle trat der prominenteste Schauspieler des Films auf: Werner Krauß spielte sowohl die Titelrolle des „Friedensreiters“ als auch den kaiserlichen Rittmeister von Dülken. Zwei Jahre später sollte Krauß mit seiner legendären Rolle als Psychiater in „Das Cabinet des Dr. Caligari“ auch international seinen Durchbruch schaffen. Bis heute zweifelhafte Berühmtheit erlangte er, weil er 1940 in dem antisemitischen Machwerk „Jud Süß“ von Veit Harlan gleich in fünf verschiedenen Rollen judenfeindliche Klischees verkörperte. Die anderen Rollen im „Friedensreiter“ waren weniger prominent besetzt, doch alle Schauspieler besaßen professionelle Filmerfahrung.
Gedreht wurde der Film im Sommer und Herbst 1918 in Münster und dem Münsterland. Den Anfang machten im August Aufnahmen auf der Wasserburg Gemen bei Borken. Erst am 4. November wurden die Drehs dann auf Burg Hülshoff fortgesetzt, unter anderem mit einer aufwändigen Schlachtenszene. Inzwischen war nicht nur der Erste Weltkrieg in seine Endphase eingetreten, auch die Wetterverhältnisse hatten sich sehr verschlechtert, was die Drehaufnahmen enorm erschwerte. Stadtarchivar Schulte erinnerte sich ein halbes Jahr später verärgert: „Grippe und Staatsumwälzung setzten den monatelangen Vorbereitungen plötzlich die allergrößten Schwierigkeiten entgegen. Statt darum ruhigere Zeiten und besseres Wetter abzuwarten, wurden die Außenaufnahmen trotz Revolution und Regen heruntergekurbelt.“
Ebenfalls noch in den letzten Kriegstagen wurde auch in Münster gedreht: unter anderem auf dem Kirchplatz von St. Josef in Kinderhaus sowie in der Johanniterkommende an der Bergstraße. Für den 7. November waren dann Dreharbeiten auf dem Prinzipalmarkt und im Friedenssaal im münsterschen Rathaus angesetzt. Dazu waren eigens die Oberleitungen der Straßenbahn entfernt, das neuzeitliche Straßenpflaster überdeckt und der historische Friedenssaal in seinen Urzustand zurückverwandelt worden. Doch die Drehs fielen im letzten Augenblick den Zeitumständen zum Opfer. Stattdessen wurde die Szene des Friedensschwurs schließlich nach dem Staatsumsturz in einem Studio in Berlin gedreht. Im Januar 1919, also auf dem Höhepunkt der revolutionären Straßenkämpfe in der Reichshauptstadt, reisten Castelle und Schulte eigens nach Berlin, um den Film abzunehmen und zeigten sich mit Ergebnis sehr zufrieden.
„Ein bemerkenswertes Ereignis“ – Aufführung und Resonanz 1919
Es dauerte dann aber noch bis zum 28. Mai 1919, bevor der Film in Münster seine Uraufführung feiern konnte. Alle drei lokalen Zeitungen kündigten ihn mit großen Vorschusslorbeeren an: So schrieb die Münstersche Zeitung am 25. Mai: „Ein bemerkenswertes Ereignis für die Hauptstadt Westfalens wird unzweifelhaft das große Filmwerk ‚Der Friedensreiter‘ werden, das von Dienstag ab im Lichtspielhaus auf der Salzstraße zur Aufführung gelangt.“ Als Begleitprogramm sollten mehrere heimatkundliche Dokumentarfilme über „Westfälische Wasserburgen“, „Münster, Westfalens Hauptstadt“ und weitere westfälische Städte gezeigt werden. Angesichts dieses Programms, so die Münstersche Zeitung, könnten „auch die vorurteilsvollsten Feinde des Kinos sich von dem Wert und Reiz des Lichtspiels für die Heimatkunde überzeugen“.
Umso überraschender war ein totaler Verriss des Films, der zwei Wochen später, am 12. Juni im Westfälischen Merkur erschien. Rigoros urteilte der Verfasser Eugen Müller, dass sich die Erwartungen an „dieses mit ganz erheblichen Mitteln in Szene gesetzte große Filmwerk … in keiner Weise erfüllt“ hätten. Vor allem warf Müller dem Film mangelnde historische Authentizität vor. Es falle schwer, „einen Zusammenhang zwischen der in übelster Kinoromantik vorgeführten Liebesgeschichte der französischen Agentin Victorine de Brion und dem historischen Friedenswerk herauszufinden“. Auch der Friedensschluss selbst sei „in durchaus unbefriedigender Weise behandelt“ worden; er habe „eher einer Zusammenkunft von Börsenmännern … denn der Versammlung von Gesandten der europäischen Mächte“ geglichen. Bemerkenswerter Weise erschien in der gleichen Ausgabe des Westfälischen Merkurs eine Anzeige, die auf angeblich „vielseitigen Wunsch“ eine Wiederaufnahme des „mit allseitigem Beifall aufgenommenen Programms“ im Tonbildtheater an der Ludgeristraße ankündigte. Offenbar waren die Meinungen zum Film in Münster also geteilt.
Nach der vernichtenden Pressekritik vom 12. Juni sah sich indes auch der Initiator des Projekts, Stadtarchivar Schulte zu einer Stellungnahme genötigt. Am 17. Juni kritisierte er ebenfalls im Westfälischen Merkur: „Aus dem von mir mit möglichster historischer Treue vorbereiteten Lehrfilm ‚Bilder vom westfälischen Frieden zu Münster 1643-48‘ hat die Deutsche Lichtbild Gesellschaft in Berlin … einen zugkräftigeren Spielfilm ‚Der Friedensreiter‘ machen wollen. Die historischen und die von Doktor Castelle dazu gelieferten, literarisch dramatischen Motive sind von der Filmgesellschaft, ohne unsere Verantwortlichkeit im Szenarium und besonders im Filmspiel verändert; die historisch-geographischen Szenen wurden auf stärkste geschnitten oder sogar ganz weggelassen; aus der lichten Gralsgestalt des Friedensreiters wurde fast ein zweiter ‚Fliegender Holländer‘. Die ganze Handlung wurde ein unruhiges, schwer verständliches Mosaik. … Die in Berlin gemachten Innenszenen standen nicht mehr unter münsterschem Einfluss, deshalb auch nicht die hier an der historischen Stätte schon vorbereitete, in Berlin völlig misslungene Friedensschlussszene.“ Zu allem Überfluss sei auch noch die von Castelle und ihm im Januar abgenommene „sorgfältig und tadelfrei hergestellte Musterkopie“ durch eine sehr viel schlechtere, „durch die Kopiermaschine gejagte Verleihkopie“ ersetzt worden.
Nach dieser öffentlichen Distanzierung des Hauptinitiators verschwand der Film in der Versenkung. Zwar durchlief er im Dezember 1921 noch die Zensur der Filmprüfstelle Berlin und wurde „zur öffentlichen Vorführung im Deutschen Reiche, auch vor Jugendlichen, zugelassen.“ Doch zumindest in Münster wurde er nie wieder gezeigt.
Die Wiederentdeckung
Erst ein dreiviertel Jahrhundert später machte sich der damalige Leiter des Bild-, Film- und Tonarchivs der Landesbildstelle Westfalen Dr. Volker Jakob auf die Suche nach dem verschollenen Filmschatz. Anlässlich der bevorstehenden 350. Wiederkehr des Friedensschlusses von 1648 fragte er 1997 in einer Reihe von Archiven nach dem Schicksal und Verbleib des Films. Aufmerksam geworden war er auf ihn durch eine Information aus dem Bundesarchiv, dass sich in „kürzlich aus Moskau zurückgekehrten Beständen“ die Zensurkarte des Films gefunden habe. Doch weder in Moskau noch in Amsterdam, Frankfurt oder Berlin konnte man ihm helfen. Auch ein von Jakob verfasster Aufsatz im Westfalenspiegel mit dem sprechenden Titel „Gesucht: ‚Der Friedensreiter‘“ brachte keine neue Spur.
Noch einmal zwanzig Jahre später stieß aber – dem inzwischen erfundenen Medium Internet sei Dank – das Stadtmuseum Münster in Vorbereitung einer weiteren Ausstellung im Online-Bibliothekskatalog der Filmuniversität Konrad Wolf in Babelsberg überraschend auf eine VHS-Videokopie des Films. Sie war wohl noch zu DDR-Zeiten aus der Sowjetunion nach Babelsberg gelangt, der Verbleib des Originals aber völlig unbekannt. Es gelang dem Stadtmuseum Münster eine Kopie zu bekommen und den Film im Rahmen der Ausstellung zu zeigen, allerdings in sehr mäßiger Videoqualität. Im Herbst 2024 entstand dann die Idee, den Film in der Reihe „Drehbuch Geschichte“ zu präsentieren, die 2025 aus Anlass des Jubiläums 1250 Jahre Westfalen Filmen aus und über die Region gewidmet werden sollte. Eine Anfrage in Babelsberg verlief zunächst ergebnislos, aber dann erinnerte sich Dr. Bernd Thier vom Stadtmuseum Münster an einen Anruf aus dem Filmmuseum Potsdam im Jahr 2021, wonach der Film in der Norwegischen Nationalbibliothek Oslo liegen solle. Nach einiger Verzögerung kam aus Norwegen am 20. Februar 2025 die alles entscheidende Mail. Torbjørn Pedersen, Mitarbeiter in der Filmabteilung der Nationalbibliothek Oslo, schrieb: „Dear Markus, I'm very happy to hear from you! … I can confirm right away that we hold a complete tinted nitrate print, with German intertitles of "Der Friedensreiter". You will also be happy to hear that the film has already been scanned for preservation, and a graded master has been produced.“ Weiter schrieb Pedersen, dass man nicht wisse, wie der Film in die Nationalbibliothek gekommen sei und auch nicht, ob der Film jemals in Norwegen gezeigt worden sei. Eine Woche später ließ die Nationalbibliothek dem LWL-Medienzentrum dann eine digitale Kopie ihres 35mm-Originals zukommen. Sie hat nicht nur eine etwas längere Laufzeit, sondern auch eine sehr viel bessere Bildqualität als die bislang bekannte VHS-Kopie. Vor allem aber ist die in Norwegen überlieferte Fassung viragiert, d.h. in wechselnden Farbtönen eingefärbt. Das war in deutschen Stummfilmen bis Mitte der 1920er Jahre ein durchaus übliches Verfahren, um wechselnde Stimmungen zu erzeugen bzw. sichtbar zu machen. So stand grün für Magie, Geheimnisvolles und Unheimliches. Kein Wunder, dass der titelgebende „Friedensreiter“ gleich zu Beginn des Streifens in einem kräftigen grünen Ambiente erscheint.
Die norwegischen Filmarchivare haben den „Friedensreiter“ mit viel Liebe und Sorgfalt digital aufbereitet, so dass der Film am 18. März im historischen Ambiente der Rüstkammer des Rathauses von Münster in neuem Glanz präsentiert werden konnte. Geplant ist, ihn vorbehaltlich der Zustimmung aus Oslo und einer erfolgreichen Rechteklärung über die europäische Plattform für „verwaiste Werke“ EUIPO im kommenden Jahr auf dem YouTube-Kanal Westfalen im Film des LWL-Medienzentrums zugänglich zu machen.