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Eine filmische Reise durch den Alltag des "Dritten Reiches"

Ein Beitrag von Dirk Fey

Karl Plote, Jahrgang 1915, und sein Bruder Theo, Jahrgang 1919, waren begeisterte Amateurfilmer und begannen Anfang der 1930er Jahre, wohl an den Film herangeführt von ihrem Vater Friedrich Plote, mit einer Handkamera im Schmalfilmformat 9,5mm-Pathé das alltägliche Leben rund um ihren Heimatort Beckum auf Film zu bringen. Mit ihren selbst erstellten Filmen erlangten sie in ihrer Heimatregion schnell einige Bekanntheit, so dass nach dem Krieg zum Beispiel der Bürgermeister von Herzfeld an Karl Plote mit der Bitte herantrat, eine Filmchronik über das Dorf an der Lippe zu produzieren.

Die Filme der beiden Brüder weisen zwei Besonderheiten auf. Sie alle entstanden größtenteils von Anfang der 1930er Jahre bis in den Zweiten Weltkrieg und decken so die Zeit ab, in der die Nationalsozialisten die Macht übernahmen und die deutsche Gesellschaft nach ihren Vorstellungen formten. Zudem waren die beiden Brüder zum Zeitpunkt der Entstehung noch im jugendlichen Alter und interessiert an allem, was in ihrer Heimatstadt und der umliegenden Region vor sich ging, mit einem wachen Blick für die Eigenarten der Bewohner und Freude an allen aufregenden Veranstaltungen, die stattfanden.

Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass nicht nur die traditionellen Feiern und Volksfeste wie beispielsweise die Karnevalsfeiern zwischen 1933 und 1939 im Film festgehalten wurden, sondern vor allem zahlreiche neue Veranstaltungen, die auf der NS-Ideologie fußten.

 

Theo und Karl Plote

Eintopfessen

So finden sich auf den Filmen der Brüder Plote zum Beispiel der „Tag der Deutschen Polizei“ mit Sammlungen für das Winterhilfswerk, ein Motorradrennen des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK), ein Volksfest des Reichsarbeitsdienstes, der Heldengedenktag, der obligatorische Aufmarsch zum 1. Mai und die Fahrt der "Alten Garde des Führers“. Ebenfalls abgelichtet wurde die Ehrung der über 80 Jahre alten Veteranen durch den Reichskriegerverein und ein öffentliches Eintopfessen (der sogenannte "Eintopfsonntag"), um nur einige der gefilmten Veranstaltungen zu nennen.

Essensausgabe beim Eintopfessen

Fassade in Beckum

Welcher aus heutiger Sicht unglaublich erscheinende Aufwand für die Organisation derartiger Propagandaveranstaltungen getrieben wurde, zeigen die Vorbereitungen für die Durchfahrt der "Alten Garde des Führers", NSDAP-Parteigenossen der ersten Stunde, deren Konvoi 1939 im Rahmen einer Propagandareise durch Westfalen auch durch Beckum rollte. Fahnenmasten wurden alle paar Meter in das Straßenpflaster eingelassen, um die Straße in ein Meer aus Hakenkreuzfahnen zu verwandeln. Ganze Häuserzeilen wurden mit Blumengirlanden verziert. Davor marschierten dann die vielen Organisationen, in die ein Großteil der Bevölkerung schon eingegliedert war, von der Hitlerjugend bis zum Reichskriegerbund für die Veteranen. Die restliche Bevölkerung war entlang der Straße aufgestellt und diente der Veranstaltung als Kulisse.

Fassade in Beckum wird geschmückt

Tag der Poizei

Dass die Miteinbeziehung der Bevölkerung in solche Veranstaltungen keineswegs immer eine freiwillige Angelegenheit war, wird am Beispiel der Sammelaktion für das Winterhilfswerk am Tag der Polizei klar. Der berittene Polizist, der die am Straßenrand stehenden, eher reserviert blickenden Menschen abritt und ihnen fordernd seine Sammelbüchse entgegenstreckte, und die teils sehr unfreundlich blickenden Polizisten zu Fuß, die sich Passanten und teils auch Autofahrern in den Weg stellten, verbreiteten einen Hauch von Wegelagerei und Raubrittertum.

Spendensammlung am Tag der Polizei

Einmarsch ins Sudentenland

Es gab damals auch gute Gründe, nicht als jemand aufzufallen, der außerhalb der Gemeinschaft steht oder gar offen Kritik äußert. Wie diejenigen gebrandmarkt wurden, die sich offen nicht mit den von der Partei erklärten Zielen der Volksgemeinschaft einverstanden erklärten, zeigt sehr plastisch eine Aufnahme vom Einmarsch deutscher Truppen ins Sudetenland, in der eine Aufschrift an einem Haus am Straßenrand ganz klar zeigt, wo eine „Volksverräterin“ wohnt und wie mit dieser umzugehen sei.

Der Druck auf Andersdenkende scheint die beiden Brüder Karl und Theo nicht nachdenklich gemacht oder gar abgeschreckt zu haben. Die Plotes scheinen ihre filmische Arbeit als Beitrag zur nationalsozialistischen Bewegung und sich selbst als Teil dieser „Volksgemeinschaft“ gesehen zu haben. In den Texttafeln verschiedener Filme tritt die Begeisterung für die Veranstaltungen und das Einverständnis mit den dahinterstehenden Gedanken der Volksgemeinschaft deutlich hervor. Aber die Aufnahmen der beiden zeigen keine anonymen Menschenmassen, sondern bleiben immer beim Individuum, zeigen einzelne Personen, die sie aus der Masse gezielt heraussuchen.

Vor allem der ältere der beiden Brüder, Karl, erweist sich als ein guter Beobachter und führt den Zuschauer in den Mikrokosmos einer kleinen Stadt ein, in das tägliche Leben und die Gesichter, die zum Erscheinungsbild des Ortes gehören. Der Barbier, die Briefträger, die jedermann bekannten Originale der Gemeinde, sie alle werden als Teil dieser Gemeinschaft gezeigt und mit Texttafeln teils humorvoll eingeführt. Es wird ein Alltag normaler Leute dargestellt, in dem das „Dritte Reich“ aber durch seine Symbole und vor allem seine Repräsentanten immer greifbar ist.

Am auffälligsten zeigt sich dies in der heute ungewohnten Präsenz von Uniformen und militärischen Veranstaltungen im Alltagsleben der damaligen Zeit. Wie fest verankert das Militär und der Militarismus in der damaligen Gesellschaft sind, zeigen nicht nur Filmaufnahmen wie die Kompilation „SS-Standarte Germania“, die neben einem Platzkonzert auf dem Marktplatz im Februar 1940 unterschiedliche Szenen aus dem Alltagsleben der in der Stadt einquartierten Einheiten zeigt.

Besser illustriert den tief in der Gesellschaft verwurzelten Militarismus der Film „Garde-Appell 1. 2. und 3. Juli 33“. Der Festumzug durch Beckum im Rahmen des Westdeutschen Garde-Appells im Juli 1933 war ein Großereignis in der kleinen Stadt, an dem 10 000 ehemalige Angehörige der früheren preußischen Garderegimenter aus Westfalen, Rheinland, Lippe und dem Saarland neben 500 SA-Leuten und 1000 Uniformierten von Stahlhelm und Reichswehr teilnahmen und somit die Einwohnerzahl der Stadt für das Wochenende verdoppelte.  Die Filmaufnahmen zeigen recht eindrücklich, wie tausende Zuschauer bei den Aufmärschen die Straßen säumten, im Stadion den Wehrsportwettkämpfen zuschauten und den einmarschierenden ehemaligen Angehörigen der der in den früheren deutschen Kolonien eingesetzten Truppenverbände aus dem Rheinland und Westfalen zujubelten, die zeitgleich mit dem Kriegerverbandsfest des Kreises Beckum ihr Wiedersehen feierten.

Schriftzug an einer Sperre während des Einmarschs ins Sudetenland 1938

Auf dem Weg in den Krieg

Das bloße Zuschauen bei militärischen Aufmärschen war für die Plotes bald vorbei, denn Ende der 1930er Jahre begann für beide Brüder die Militärzeit. Da auch relativ viele Aufnahmen aus einem Lager des Reichsarbeitsdienstes in Wadersloh erhalten sind, leistete vermutlich zumindest einer von ihnen den obligatorischen Dienst im RAD, bevor die eigentliche Wehrpflicht begann. Filmaufnahmen einer Einheit der Flakartillerie lassen vermuten, dass Karl dort seinen Wehrdienst ableistete und mit seiner Einheit 1938 beim Einmarsch in das Sudetenland dabei war.

Theo, der schon mit 16 Jahren die Begeisterung für das Segelfliegen entdeckt und sich deswegen in Beckum der Segelflieger-HJ angeschlossen hatte, war bei Ausbruch des Krieges Bombenwart in einem der neuen Sturzkampfgeschwader der Luftwaffe, dem Sturzkampfgeschwader 2 „Immelmann“. Die Kamera immer im Gepäck reiste er mit seinem Geschwader von einem Kriegsschauplatz zum anderen, erlebte den Angriff auf Polen, den Westfeldzug in Belgien und Frankreich, den Einmarsch in Jugoslawien und Griechenland und schließlich den Angriff auf die Sowjetunion mit und filmte, wann immer es möglich war, den Kriegsalltag mit all seinen Facetten, bis die filmische Überlieferung im Jahre 1943 schließlich abbricht.

Theo Plotes kurze Filme, die er mit seinem Kameraden, dem Motorentechniker Michael Feuerstein aufnahm, sind keine Dokumentation von Kampfhandlungen. Direkte Kriegseinsätze sind nur selten zu sehen, etwa, wenn er für einen Einsatz auf dem Platz des Bordschützen hinter dem Piloten Platz nimmt und den Sturzangriff aus dem Cockpit filmt. Das dies für ihn ein neuartiges Erlebnis war, wird spätestens dann klar, als ihm während des Sturzfluges beim Zielanflug der Kamm aus der Hosentasche rutscht und am Ohr des Piloten vorbei an die Frontscheibe der Pilotenkanzel fliegt.

Meist zeigt Plote allerdings die Spuren des Krieges, wenn das Bodenpersonal mit den Lastwagen dem Geschwader folgte, um wieder einen neuen Flugplatz zu belegen, und er unterwegs die Zerstörungen aufzeichnete, die im Zuge der Kampfhandlungen entstanden waren. So dokumentiert Plote die Spuren eines Massakers und filmt, wie ermordete Bewohner eines litauischen Dorfes beerdigt und einige der angeblichen sowjetischen Täter verhaftet wurden. Die Bilder der dem Erdboden gleichgemachten Stadtviertel in Witebsk und Smolensk lassen erahnen, welchen Preis die Bewohner dieser Städte im Rahmen der Eroberung zahlen mussten.

Überhaupt zeigen die Filme oft die Begegnungen der deutschen Soldaten mit der Zivilbevölkerung in verschiedenen von Deutschland besetzten Ländern und Regionen und deren doch recht unterschiedliche Reaktionen gegenüber den Deutschen: von neugierig und teils freundlichen Begrüßungen über geschockte Zurückhaltung bis zu trotzigem und unterschwellig feindseligem Verhalten. Auf dem Balkan wurden die deutschen Soldaten mancherorts noch umjubelt oder angestaunt, begrüßten Hakenkreuzfahnen und tanzende Einheimische die Ankömmlinge. Andernorts mischten sich die jungen Soldaten unter die Bevölkerung, wie während des Frankreichfeldzugs, wo es dank eines sprachkundigen Kameraden eine angeregte Diskussion mit den Angehörigen eines Flüchtlingstrecks gibt. Man ist auch erstaunt über das freundschaftlich anmutende Geschäft zwischen Wehrmachtssoldaten und russischen Dorfbewohnern, die beim Tauschhandel Mehl und Grütze gegen frisches Obst und Gemüse unter viel Lachen und Gestikulieren offensichtlich wunderbar zurechtkommen.

 

Theo Plote wechselt den Film

"Gruppenbordell" des Geschwaders in Frankreich

Auf der anderen Seite sind da die Kriegsgefangenen, Prostituierten und andere zwangsverpflichtete Personen, die oft nur im Hintergrund oder als Beiwerk im Bild auftauchen. Theo Plote selbst kommentiert noch im Jahr 1998 fast sarkastisch auf einem mit Kommentarton versehenen Zusammenschnitt die fehlende "große Begeisterung" der zum „Mithelfen“ eingespannten russischen Bevölkerung, die ganze Wagenladungen von Erde und Steinen zum Ausbessern eines neuen Flugfeldes herbeibringen muss, oder weist lapidar darauf hin, dass die gefilmte Wäscherin „für die Offiziere nicht nur die Wäsche wusch“.

Bordell in einer Baracke

Fronturlauberbetreuung in Bialystok

Je länger der Krieg dauert, desto mehr verschwindet die jungenhafte Aufregung der Soldaten, desto mehr treten Müdigkeit und Strapazen in den Aufnahmen hervor. Dass die Führung der Wehrmacht alle Anstrengungen unternahm, um die erschöpften und ausgebrannten Soldaten wieder kriegsbereit zu machen, zeigen Aufnahmen aus einem Durchgangslager für Fronturlauber in Bialystok, in dem sich sogar eine Ausgabestelle befand, wo sich die Soldaten „Urlaubspakete des Führers“ abholen konnten. Ob diese Maßnahmen genügten, die Kampfmoral der in Schlamm und Kälte gefilmten Soldaten aufrechtzuerhalten, darf bezweifelt werden. Die letzte datierbare Aufnahme der Kriegsaufnahmen jedenfalls ist ein Friedhof für gefallene Wehrmachtssoldaten.

Fronturlauberbetreuung in Bialystok

Die Aufarbeitung des Bestandes

In den 1990er Jahren erregte die Filmsammlung der Brüder Plote erstmals die Aufmerksamkeit des LWL-Medienzentrums für Westfalen. Mehrfach kaufte das Medienzentrum damals Filmkopien der Filme, die von den originalen 9,5mm-Filmrollen auf die damals aktuellen Videoformate Betacam-SP und U-Matic überspielt wurden. Damit kamen der Inhalt von mindestens 36 Filmrollen, die in der Zeit zwischen 1929 und 1952 entstanden waren, in den Bestand des Medienzentrums.

Als problematisch dabei erwies sich, dass Karl und Theo Plote viele nur wenige Minuten lange Originalfilme zur besseren Überspielung zusammengeklebt hatten, ohne das größtenteils ungeschnittene Material dabei in eine chronologische Reihenfolge zu bringen und ohne eine Liste beizufügen, aus der die Zusammensetzung der Rollen ersichtlich geworden wäre.

Für noch mehr Verwirrung sorgte ein weiterer Ankauf von Filmen im Jahr 1995, als statt den Kopien weiterer Filme größtenteils die bereits im Archivbestand vorhandenen Filme in neuer Schnittreihenfolge und mit neuen Titeln überspielt wurden.

Nach dem Tod der Witwe des zwischenzeitlich verstorbenen Theo Plote gelangten 2017 die letzten verbliebenen Originalfilme ins Archiv des Medienzentrums, die Mehrzahl war zuvor an Sammler verkauft worden.

Die schwierige Aufgabe im Vorfeld der inhaltlichen Erschließung des Bestandes war zunächst ein szenengenauer Abgleich aller Filmkopien und die Suche nach dem qualitativ besten Material, welches mehrheitlich leider nur als Videokopie im Format Standard Definition vorliegt. 

Trotz dieses Wermuttropfens ist die inhaltliche Qualität des Materials unbestritten. Durch den genauen Abgleich von vermeintlich gleichem Material konnten zudem mehrere bisher nicht verzeichnete Filme identifiziert und inhaltlich ausgewertet werden.  Zu recherchieren ist das Filmmaterial in der Online-Datenbank

Rückfragen bitte an:
Dirk Fey
Bild-, Film-, Tonarchiv
E-Mail: dirk.fey@lwl.org